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| Thema: Patchwork - Tagebuch eines Experimentes II So 24 Jun 2012 - 15:59 | |
| - Kapitel 5:
Im Schulbus war es voll, und ich klammerte mich so fest an zwei der blauen Stangen, das meine Fingerknöchel weiß wurden. Schon als ich eingestiegen war, hatte mich dieses seltsame Gefühl überkommen. Und jetzt erinnerte ich mich selbst an eine Maus, die von einer Horde Schlangen umgeben ist. Sie starrten mich gierig an, züngelten zwischendurch ihren Verbündeten etwas zu, und durchbohrten mich dann wieder mit ihren schlitzigen, gelben Augen. Ich sah hinüber zu Kathleen, die neben einer geschminkten Brünetten saß, und auf ihr iPhone starrte. Manchmal sah sie auf und sagte etwas zu ihrer Sitznachbarin, und ganz selten sah sie auch durch die Leute zu mir – dann verzogen sich ihre glänzenden Mundwinkel spöttisch und sie raunte der Brünetten etwas ins Ohr. Mit einem Ruck, der mich gegen einen verpickelten Freak warf, der neben mir ebenfalls um sein Leben rang, hielt der Bus an einer Ampel. Als er wieder anfuhr, lag ich drei Meter weiter vorne im Gang, und rappelte mich mit Mühe auf.
Es war Dienstagfrüh, zehn vor Acht, und in wenigen Minuten würde ich durch den Eingang meiner neuen Schule treten. Ohne Freunde, ohne Leute die ich kannte. Ich war verdammt nochmal ein Opfer. So wie die Außenseiter zuhause, die ich kaum eines Blickes gewürdigt hatte, weil sie es einfach nicht wert waren, dass man sich mit ihnen abgab. Trotz allem hatte ich mir allergrößte Mühe gegeben, zu signalisieren, dass ich durchaus einen Blick oder zwei Wörter wert war. Ich war gestern im örtlichen Drogeriemarkt gewesen, und hatte mich mit einem nötigen Vorrat an Make-up und Nagellack eingedeckt, und mir für heute meine besten Klamotten heraus gesucht. Blaukarierte Bluse, weißes Rüschenshirt, und eine enge dunkle Jeans mit dickem Gürtel, den ich von meiner Mutter bekommen hatte. Eigentlich sollte sie sich geschmeichelt fühlen. Solche Großstadtpflanze wie ich kamen bestimmt nicht oft hierher, und wenn, gingen sie nach zehn Minuten ein. Ich war schon ganz schön zäh. Der Bus verlangsamte sich, und hielt in einer Haltebucht. Durch die Fenster konnte ich einen Blick auf ein großes Gebäude erhaschen, aber dann wurde der Ausblick von dem Kopf des verpickelten Freaks verdeckt. Die Türen klappten auf, und der Bus leerte sämtliche Schüler aus. Ich wartete auf dem Bürgersteig, bis sich das Gedrängel halbwegs aufgelöst hatte, und ging dann über die Straße, immer dorthin, wohin sich die Karawane bewegte. In mein Blickfeld trat das große Gebäude von eben. Es war relativ neu, hellgrau, mit riesigen Fenstern. In der Mitte des Gebäudes trohnte ein vierstöckiger Turm, rechts und links davon gingen zwei weniger hohe Flügel ab. In allen gab es Ein- und Ausgänge, makiert von doppelflügigen Holztoren. Ich blieb stehen, um den Anblick zu verdauen. „Hey du Primadonna, geh weiter und glotz nich‘ doof“, schallte es auf einmal in mein Ohr. Die Oktaven der Stimme wechselten zwischen hoch kieksend und tief schnarrend. Der Typ, der vor mir stand, befand sich offenbar gerade im Stimmbruch. Ich nickte eingeschüchtert und lief ein bisschen vor. „Hey Kathleen!“, brüllte ich quer über den Hof, als ich das seidig blonde Haar meiner Stiefschwester in der Menge erblickte. Sie lief immer noch neben der großen Brünetten und drehte sich kurz um. Als sie bemerkte, dass ich gerufen hatte, zog sie die Augenbrauen hoch, schwenkte zurück, und stolzierte weiter – á la Germany’s next Topmodel. Na super. Jetzt musste ich irgendwelche Fremden anquatschen, sonst würde ich das Sekretariat wohl nie finden. Aber hey, da war doch noch Felix. Er hing mit ein paar Typen herum, die ich vom Alter her etwa in der neunten Klasse vermutete, und fuhr sich gerade lässig durch die weißblonden Haare, die einen krassen Kontrast zu seiner braungebrannten Haut bildeten. Wenn Janine mit ihrer Familie jedes Wochenende nach Mallorca flog konnte ich mit meiner Gespensterhaut wohl nichts anderes tun, als davon zu profitieren. Ich richtete mich auf, straffte die Schultern und bemühte mich, möglichst gelassen auf ihn zuzugehen. „Äh…Felix?“, stammelte ich, und meine Fassade krachte tosend zusammen. Entweder hatte er mich nicht bemerkt, oder er ignorierte mich absichtlich. Ich vermutete letzteres. Schließlich war indirekt ich mit daran schuld, dass er jetzt in ein Haus mit seinem Stiefvater und zwei fremden Kindern ziehen musste. Hehe. „Felix?“, fragte ich lauter. Die einzige Reaktion war ein grölendes Lachen seinerseits, was garantiert nicht mir galt. „Hey Felix, da will wer was von dir“, schnurrte der Türke neben ihm und deutete mit dem Daumen auf mich, nachdem er mich kurz aber eingehend gemustert hatte. Er schien der einzige zu sein, der altersmäßig gar nicht in das Schema von Felix‘ Freundeskreis passte. Der Freak machte doch garantiert dieses Jahr Abi. Der Typ überragte seine Kumpels alle um mindestens einen halben Kopf, und Bartstoppeln sprossen ihm fröhlich an der Wange, dem Kinn und über den Lippen. Seine tiefschwarzen Haare waren zurückgegeelt, und irgendwie sah er wie jemand aus, um den sich die Mädchen prügelten. Ich sah wieder Felix Rücken an, der sich langsam von mir wegdrehte, bis ich in das Gesicht meines Stiefbruders sah. „Was willst du?“, fragte er unfreundlich. „Wo ist das Sekretariat?“, fragte ich ebenso schroff. Felix dachte eine ganze Weile scharf nach, dann erzählte er irgendetwas von „durch das Foyer, der Flur neben dem Kiosk der erste Raum links“, und blendete mich aus, indem er sich wieder seinen Freunden zuwandte. Na super. Ich bemühte mich, durch die größte der Flügeltüren zu gelangen, hinter der ich das Foyer vermutete. Zum Glück hatte ich mit meinen ganzen Vermutungen einigermaßen recht, und schon bald hatte ich den Flur gefunden, den Felix gemeint hatte. Schön, dass er von einem großen bulligen Lehrer bewacht wurde, der mindestens so breit wie hoch war. Ich stoppte meinen Sprint und schlitterte ihm vor die Sandalen, in denen eklige Schweißfüße steckten. Bäh. „Wohin willst du?“, grollte er, und ich kam mir vor als würde ich in Hogwarts dem dreiköpfigen Hund Fluffy begegnen, der den Stein der Weisen bewachte. Ich schrumpfte sofort um einen halben Meter. „Ähm….ich bin neu hier, und irgendwie….ich muss zum Sekretariat, damit ich weiß, in welche Klasse ich komme.“ Der bullige Typ grunzte und irgendwie sah er nicht so aus, als würde mein Argument etwas an seiner festen Überzeugung ändern. Na toll.
Ich bin so eine Art wandelndes Klischee. Passt doch, Scheidungskind zieht zu ihrem Vater in ein verschlafenes Nest in Norddeutschland, bekommt einen ultra gut aussehenden Typen, eine kleine Nervensäge und eine zickige H²o-Blondine als neue Geschwister vorgesetzt, und kommt dann auch noch zu spät in ihre neue Klasse. So wie ich.
Natürlich hat der Penner am Flur mich erst durchgelassen, als es geklingelt hat, und im Sekretariat waren dann noch zwei Dutzend andere Leute, die Klausurbogen kaufen wollten, oder das Klassenbuch holen mussten. Und als sie alle bedient waren, war ich die einzige, die noch übrig war. „Huch!“, hatte die Sekretärin gemacht, die laut ihrem professionell angesteckten Namensschildchen Frau Grundelwild hieß. „Entschuldigung, was kann ich für dich tun?“ Ich hatte ihr meine Lage erklärt, und irgendwie wirkte sie ein wenig aus der Fassung gebracht. Nach fünf Minuten musste ich sie daran erinnern, dass ich doch wohl einer Klasse zugeteilt war, in die sie mich schicken könnte. Natürlich war ich das nicht, da Thorsten das irgendwie vergeigt hatte, oder die Verwaltung, ich hatte keine Ahnung, und habe für die nächste Viertelstunde im Warteraum herum gegammelt. Da kam Frau Grundelwild mit einem handgeschriebenen Zettel, und meinte, den soll ich der Lehrerin geben, die zurzeit in meiner neuen Klasse unterrichten würde. Ich glaube, die Sekretärin war etwas chaotisch veranlagt, denn sie verschwand wieder und begann, ein Käsebrot aus ihrer Handtasche zu frimeln, während ich begann, auf den schwarzen Stoffsesseln herumzuturnen, in der Erwartung, dass sie mir meine Klasse wohl gleich sagen würde. Beachtet wurde ich erst, als Frau Grundelwild meine seltsamen Verrenkungen registriert hatte, und mich fragte, wieso ich denn noch nicht in meiner Klasse wäre. Als ich sie wiederrum über die Tatsache informierte, dass sie mich noch keiner Klasse zugeteilt hätte, wirkte sie seltsam verstört, und begann in ihren Unterlagen herumzukramen. Die Klasse mit den wenigsten Schülern wäre momentan die 7d, und die hielte sich momentan im Raum 216 auf. Damit warf sie mich hinaus. Bis ich den Klassenraum erstmal gefunden hatte, war es laut meinem Handy 9: 14, das hieß, die zweite Stunde hatte bereits begonnen.
Jetzt stand ich vor dem Raum, der sich in dem seltsamen Turm befand, und traute mich nicht zu klopfen. Ich beruhigte mich mit ein paar Yogatechniken auf dem Flur, bei denen ich zwischen Kopfständen an der Wand und Meditation im Schneidersitz hin und her pendelte. Nach etwa zehn Minuten hatte ich mich beruhigt, und klopfte zögerlich an der hellen Holztür, an die ein Schildchen gepinnt war. Raum 216 || Klasse 7d || Frau Jülich Ah ja. Meine Klassenlehrerin hieß also Frau Jülich, und der Name klang ganz okay. Ich klopfte also noch einmal – diesmal fester, ermutigt durch den freundlich klingenden Namen, und diesmal schallte im Kanon „Herein“, zu mir hinaus. Zögerlich öffnete ich die Tür. Taktisch gesehen befand ich mich nicht gerade an der günstigsten Position. Das Lehrerpult befand sich geradewegs vor mir, sodass ich zwangsläufig daran vorbeimusste. In meiner alten Klasse hatte sich der Sitzplatz des Lehrers gegenüber der Tür befunden, direkt vor der Tafel. Hier hing die Tafel neben der Tür. Und am Pult saß eine nicht sehr freundlich aussehende, knittrige alte Oma. Und die etwa 25 Schüler, die an einzeln herumstehenden Zweiertischen saßen, starrten mich alle an. Schlangen im Bus. Gut aussehende Türken und Stiefbrüder. Zickige Stiefschwestern mit brünetten Freundinnen. Leicht adipöse Lehrer, die Bulldoggen ähnelten. Geistig verwirrte Sekretärinnen. Meine neue Schule war gar keine Schule. Sondern eine Geisterbahn.
Sag ich doch, ich bin ein Klischee.
- Kapitel 6:
*ZWEITER TEIL*
6 Wieso bist du zu spät?“, schnarrte die Lehrerin. „Frau Jülich, das ist niemand aus unserer Klasse“, erinnerte ein Mädchen aus der ersten Reihe, dessen Gesicht von einem großen Blumentopf verdeckt wurde Frau Jülich, die überhaupt nicht „ganz okay und freundlich“ aussah. „Ich soll ihn diesen Zettel geben“, erwiderte ich mit zitternder Stimme, da ich trotz den Yogaübungen auf dem Flur leicht nervös war. Frau Jülich grapschte mir das karierte, flüchtig abgerissene Blatt Papier aus der Hand und studierte es eingehend. „Na gut. Du gehörst also ab jetzt zu unserer Klasse“, stellte sie skeptisch fest, und diese Tatsache schien sie nicht sonderlich zu erfreuen, aber löste dennoch ein aufgeregtes Gemurmel bei den Schülern aus. „Jap“, machte ich und marschierte zielstrebig auf einen freien Platz in der letzten Reihe zu, um weiteren Fragen zu entgehen. Fünfundzwanzig Augenpaare begleiteten mich. „Stopp Mädchen“, bremste mich Frau Jülich, die immer noch auf das Blatt starrte. Sie schien es fast mit den kleinen Schweinsaugen aufzufressen. „Wieso bist du zu spät?“, fragte sie wieder. Die Wiederholung ihrer Frage verunsicherte mich deutlich. „Äh…steht das nicht auf dem Zettel?“ (Ich befürchtete, dass ich die ganze komplizierte Geschichte erzählen musste.) Frau Jülich schüttelte wortlos den Kopf. „Lange Geschichte“, erwiderte ich. „Erzählen!“, krähte irgendein auf der Strecke gebliebener Schwachkopf irgendwo an einem Tisch in der dritten Reihe.
„Erzähl“, krächzte Frau Jülich. „Darf ich mich zuerst setzen?“, fragte ich flehend. Die Lehrerin schien zu überlegen, und nickte schließlich. Erleichtert rannte ich zu dem freien Platz und packte meine Sachen aus. Dann musterte ich meine Sitznachbarin und wusste sofort, wieso sich niemand freiwillig auf diesen Platz gesetzt hatte. Mir blieb jedoch keine Zeit, ihre Merkmale zu registrieren, denn Frau Jülich forderte mich erneut zu einer Erklärung auf. Die folgenden sieben Minuten wurden anscheinend zu den spannendsten, die die Klasse 7d je durchlebt hatte. Es schien nicht so schwer zu sein, sie zu fesseln, hier oben passierte wohl nicht viel, über das man tratschen konnte. Als ich zu Ende erzählt hatte (ich hatte die Yogaübungen ausgelassen), schluckten die Insassen des Raumes synchron. Ich lächelte freundlich, und Frau Jülich behauptete, sie hätte Kopfweh, ob Kai nicht den Unterricht fortsetzen könnte. Sie setzte sich an das offene Fenster und starrte mit leerem Blick hinaus. Kai entpuppte sich als schlaksiger, hoch gewachsener Nerd, mit Brille und zu großem Pullover, der nun begann, äußerst komplizierte lineare Gleichungen zu erläutern. Und so wandte ich mich erneut meiner Sitznachbarin zu, die stark an einen Alien erinnerte. „Hey“, grinste sie fröhlich, und strahlte mich an. „Ich bin Fee.“ „Hey“, erwiderte ich mit trockenem Mund. Mein Hirn war mit Fees äußerer Erscheinung ziemlich überfordert. Sie besaß dunkel- fast weinrote kurz geschnittene Fransenhaare, die ihr frech über die Stirn fielen (sicher waren sie gefärbt), und ihre hellblauen Augen strahlten mich an. Sie hätte Werbung für p²- Mascara oder so machen können, so krasse Augen hatte sie. Ihre Haut war olivfarben, und am linken Arm zählte ich an die fünfzig Muttermale und fünfzehn Armbänder. Sie trug ein weißes XXL-Shirt, und etwa ein halbes Dutzend klimpernder Ketten. An dem rechten Arm, der ohne die Muttermale, trug sie einen langen Wollhandschuh, der bis zum Ellebogen reichte, die Finger jedoch freiließ, und ihrer Entscheidung etwas Billiges verlieh. Ihre Jeans stufte ich nach einem Blick unter den Tisch als zu eng ein (hellrosa, von &DENIM) und sie trug schwarze Ballerinas. „Bist du jetzt fertig?“, fragte Fee, und riss mich aus meinem Röntgenmodus. „Oh…Entschuldigung, ja“, erwiderte ich verwirrt, als mir klar wurde, dass sie meinen Blick bemerkt hatte, der sie von oben bis unten gemustert hatte. Ich denke, mit meinen hellblonden, langen und welligen Haaren, der Gespensterhaut und der fehlenden Oberweite (Sie hatte doch mindestens Cup B), wirkte ich ziemlich langweilig. „Wie heißt du denn?“, fragte sie. „Scheiße“, entfuhr es mir. „Cooler Name“, erwiderte Fee trocken. „Mal was anderes, oder?“ Ich funkelte sie wütend an um ihr zu signalisieren, dass sie nicht wirklich witzig war. „Ich meinte eigentlich, dass ich vergessen habe mich vorzustellen“, erklärte ich seufzend. Fee grinste. „Ja, das passiert bei der Jülich schon mal. Wie heißt du denn nun?“, bohrte sie. „Magdalena.“ „Da klang ‚Scheiße‘ aber besser“, sagte Fee. „Nichts gegen meinen Namen!“, erwiderte ich gereizt. Der Tag verlief echt bescheuert. „Nur Spaß“, beeilte Fee sich, mich zu beruhigen. „Magdalena ist ‘nen cooler Name. So heißt immerhin nicht jeder.“ „Es heißt auch nicht jeder Fee“, knurrte ich, und warf einen kurzen Blick zu Kai, aus dessen Mund Formeln und Ypsilons flossen, während er ein Koordinatensystem an die Tafel malte. „Bis auf ein paar Jungs ist die Klasse fürn‘ Arsch“, informierte mich Fee, als sie meinen Blick bemerkte. „Wir haben eine alzheimerkranke Klassenlehrerin, ne Menge Tussen, ein paar Streber und drei Topfpflanzen“, veranschaulichte sie, noch bevor ich mich über ihre leicht asoziale Ausdrucksweise aufregen konnte. „Meistens macht Kai den Unterricht von der Jülich, und in ihren Arbeiten ist er immer nach zehn Minuten fertig, sodass die ganze Klasse Zeit hat, von ihm abzuschreiben. Er ist für einen Freak eigentlich ziemlich cool drauf, und gibt seine Lösungen immer herum.“ Ich sah kurz hinüber zu Frau Jülich, die sich aus dem Fenster lehnte, und aussah, als müsste sie sich übergeben. „Was hat dich denn hier in das Nest verschlagen?“, fragte Fee. „Du bist doch nicht etwa freiwillig hergekommen.“ Ich schüttelte so hastig den Kopf das mein Genick knackste. Fee lachte. „Ich komme aus München“, erzählte ich. „Mein Vater ist abgehauen als ich drei war, und ich habe ihn sechs Jahre lang nicht gesehen. Nun muss meine Mutter wegen ihrem Beruf nach Barcelona und hat uns…abgegeben. Jetzt wohne ich auf dem Campingplatz und habe zusätzlich zu meinem kleinen Bruder noch drei Stiefgeschwister und eine Stiefmutter.“ Fee sah mich mitleidig an. „Muss echt beknackt sein, von der City ins Nest“, sprach sie meine Gedanken aus. „Gehen deine Stiefgeschwister hier auf die Schule?“, fragte sie neugierig. Ich nickte. „Zwei von ihnen. Felix ist glaub ich in der Neunten, und Kathleen in der Siebten oder Achten.“ „Kathleen mit dem lustigen Doppelnamen?“, kicherte Fee. Ich sah sie fragend an. „Ja, die geht in die 7b. Ist ne ganz schön aufgeblasene Kuh, wenn du mich fragst.“ „Das habe ich auch schon bemerkt“, seufzte ich. Fee klimperte mit den langen, getuschten Wimpern, wobei eine Haarsträhne verrutschte und den sorgfältig gezogenen Lidstrich über ihrem Auge freigab. „Wie alt bist du?“, fragte ich. „Vierzehn“, erwiderte sie. „Ich hab die sechste wiederholt.“ Obwohl sie eineinhalb Jahre älter war als ich, schien sie ziemlich krass drauf zu sein. Und ich wusste nicht wirklich, ob ich das faszinierend oder abstoßend fand.
Als es zur Pause klingelte, hatte ich nicht wirklich Zeit, um mich in eine Ecke zu verdrücken, denn auf dem Weg durch das Treppenhaus des Turms auf den Schulhof hinaus fand sich mit wenigen Ausnahmen meine ganze Klasse ein, und löcherte mich mit Fragen. Als ich ihnen meinen Namen mitgeteilt hatte, verschwand ich auf dem Mädchenklo. Mir fiel auf, dass Fee nicht bei meinen Stalkern gewesen war. Na gut, sie wusste ja auch alles über mich. Bestimmt verbreitete sie ihre Informationen woanders. Sie hatte übrigens Recht, damit, dass es nur Tussen in der 7d gab. Ihre Anführerin war Celine, eine zierliche kleine Blondine, der man gar nicht so viel Arroganz zutraute. Die Stellvertreterin und Anbeterin von Celine war Julia, rothaarig (keinesfalls so wie Fee, sondern viel heller und blasser – eher die Farbe einer ausgetrockneten Orange) und persönlichkeitslos. Alles, was Celine ihr auftrug, führte sie ohne ein Wort des Widerspruches aus, und tänzelte pausenlos um sie herum, wenn sie ihr nicht gerade kalorienfreie Süßigkeiten besorgte (wo sie die wohl herbekam?). Dann gab es noch Carina, Luisa und Chantal, drei Mädchen, die noch weniger zu melden hatten als Julia, und nur bestätigend mit den bemalten Augendeckeln klapperten. Wie konnte man sich in der 7. Klasse nur so aufbrezeln? Chantal fiel vor allem durch ihre Gothic-Haltung auf. Sie trug zwar bunte Klamotten, aber die Wimperntusche verschmierte ihr immer unter den Augen und über der Nase. Wenn es die Mädchen glücklich machte.
Am Nachmittag gingen wir ins Hallenbad. Da sich der Mai irgendwie mit dem Februar gekoppelt hatte, war kein Freibad geöffnet, aber ich hätte auch einfach in den Plöner See springen können, der direkt am Campingplatz lag. Ich glaube, dass ich für Felix das erste Mal interessant geworden bin, als ich im blauen Streifen-Bikini über die matschig weißen Kacheln hinüber zu unserer Bank gelaufen bin. Okay, der Hüftschwung und die Haltung meiner Arme war nicht ganz natürlich, aber der Typ hatte mich nicht einmal angesehen, seit er aus seiner dämlichen Familienkutsche gestiegen war, und sich mit seinem EnergyDrink beschlabbert hatte. Wurde langsam Zeit. Aber jetzt….sein Blick wanderte zuerst zu meiner gering ausgeprägten Oberweite, dann hinunter zu meinen Beinen, wo er kurz hängen blieb, und letztendlich sah Felix mir ungläubig ins Gesicht, als könne er nicht wahrhaben, dass dieser Körper mein Gesicht trug. Na super. Ich hasste es, unterschätzt zu werden. Ich zog nur die Augenbrauen hoch und marschierte dann davon. Und diesmal war ich mir meinem Hüftschwung durchaus bewusst. Als ich nach ein paar Stunden, die ich in dem angenehm heißen Whirlpool verbracht hatte, unter dem Föhn stand, kam Thorsten vorbei, gefolgt von Felix. Letzterer marschierte an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen – jetzt wusste er ja wie ich aussah. Thorsten jedoch blieb stehen. „Wir sehen uns morgen ein Haus an“, erklärte er und ich musste würgen. Während mein Vater mir auf die Schulter klopfte, hustete ich noch ein paar Mal und murmelte dann etwas von „verschluckt“.
Es war seltsam. Das Haus, meine ich. Es war ein klassisches Reihenhaus, und stand in mitten einer Reihe von identischen Bauten, die die ganze Seite einer Vorstadtstraße in Damsdorf ausfüllte, einem Örtchen wenige Kilometer von Dersau entfernt. Schon alleine der Vorgarten widerte mich an. Der Rasen war kurz geschnitten, und wurde von zweitausend Gartenzwergen bewohnt, die uns alle finster anstarrten. Als wir klingelten, öffnete uns ein junges Ehepaar die weiße Haustür, und bat uns hinein. Überall standen Umzugskartons herum, und es war das reinste Chaos. „Entschuldigen Sie bitte“, bat der Mann, etwa dreißig, und machte eine Handbewegung. „Wir stecken mitten im Umzug.“ „Wieso wollen sie denn ausziehen?“, fragte ich unschuldig. Diese simple Frage schien den Mann ins Grübeln zu bringen. Irgendwann, nachdem er sich fünf Minuten das Kinn gerieben hatte, rief er: „Susanne?! Wieso wollen wir überhaupt ausziehen?“ Susanne, seine Frau, kam aus der Küche und sah ebenfalls ein wenig ratlos aus, und während die beiden lauthals darüber nachdachten, wieso sie ausziehen wollten, begannen Nils und Elias, die sich beide recht gut verstanden, die Elektronik des Fernsehers in der Sofaecke auseinanderzunehmen. Thorsten, Janine und ihre beiden älteren Kinder besichtigten das Haus (beziehungsweise latschte Kathleen einfach nur hinterher und besichtigte den Screen ihres Smartphones). Ich dagegen blieb bei Susanne und ihrem Mann, und begann, ihnen die Vorteile ihres Hauses vor die Augen zu führen („Die Gartenzwerge fühlen sich doch soooo wohl“ oder „Diese himmlische Aussicht!“). Zehn Minuten später warfen uns die beiden aus der Wohnung, da sie den Entschluss gefasst hatten, doch nicht auszuziehen. „Haste echt super hinbekommen“, motzte Kathleen, und ließ sich neben mich in die Lederpolster von Janines Wagen sinken um mich mit giftigen Blicken zu bombadieren. Neben mir saß Felix und verströmte seinen Bruno Banani Duft, der um mich herum waberte wie eine außerordentlich gut riechende Rauchwolke.
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