Gast Gast
| Thema: Patchwork - Tagebuch eines Experimentes Sa 9 Jun 2012 - 15:08 | |
| Magdalena zieht gemeinsam mit ihrem kleinen Bruder zu ihrem Vater nach Norddeutschland - mitten in die Einöde der holsteinischen Schweiz. Wie soll sie mit einem Mann zusammenleben, den sie sechs Jahre lang nicht gesehen hat, und ihr "Erzeuger", wie sie ihn nennt, sein soll? Gerade als sie das Leben im Campingwagen, zu dem sie von nun an verdammt zu sein scheint, akzeptiert, taucht die Freundin ihres Vaters auf, samt drei Kindern und einem Hund. Da sich schon die Suche nach einem geeignetem Familiensitz als problematisch erweist, und die neue Schule zum Horrorkabinett wird, scheint ein Zusammenleben zu siebt unmöglich... Quelle des Coverfotos: weheartit.com- Cover:
- Kapitel 1:
Schade eigentlich, dass das Leben nicht wie im Film von einer anhaltenden, pausenlosen, aber dennoch abwechslungsreichen Hintergrundmusik begleitet wird. Es wäre so viel aufregender, und vor allem leidenschaftlich und intensiv. Doch auch wenn ich die plätschernde Klaviermusik, die wie die Faust auf’s Auge in meine Situation passte, fast in meinen Ohren klingeln hörte – diese sechs Stunden konnten weder mit, noch ohne Begleitung spannend durchlebt werden. Die grüne Landschaft rauschte hinter dem beschmierten Zugfenster vorbei - Flachland, Flachland, zwischendurch ein Schaf, und wieder Flachland. Oh mein Gott, je länger mein kleiner Bruder Elias und ich in der Bahn saßen, desto eintöniger wurde unsere Umgebung, und je weiter es gen Norden ging, desto leerer wurden die vor sechs Stunden noch rappelvollen Waggons des ICEs 882 München-Hamburg-Altona. Vor mir auf dem ausklappbaren Tisch, der auch noch den restlichen Platz raubte, stand eine leere Colaflasche, die ich für nicht wenig Geld im Bordbistro erstanden hatte. Da war sie sogar noch voll gewesen, aber jetzt erinnerte nur noch ein Spucktropfen am Deckel daran, dass mein kleiner Bruder die Flasche leer genuckelt hatte. Jetzt saß Elias neben mir, und seine Segelohren wurden von meinen pinken Kopfhörern warmgehalten. Die laute Pop-Musik, die bis zu mir dröhnte, stammte aus meinem iPod, der vor dem Zwerg auf dem Tisch lag. Ich rückte mit dem Gesicht näher an das Fenster heran, bis ich mich darin spiegelte, und die Kuhherde, die eben vorbeizog, in den Hintergrund rücken ließ. „Magdaaaa!“, krähte Elias aufmerksamkeitsheischend, bevor ich mein Spiegel-Ich einer genaueren Betrachtung unterziehen konnte. Ich drehte mich zu ihm um, und er streckte mir den iPod ins Gesicht. „Der ist alle!“, quengelte er und sah mich an, als ob er erwarten würde, dass ich jetzt aus dem Nichts ein Aufladekabel herbeizaubern würde. Wobei das eigentlich kein Problem wäre, die Schwierigkeit lag eher darin hier eine Steckdose zu finden. „Dann hast du halt Pech gehabt“, entgegnete ich, „wir sind eh in einer halben Stunde in Hamburg.“ „Papa hat am Telefon gesagt er hätte eine PlayStation3“, erinnerte sich Elias, und der iPod war vergessen. Ich rief mir ebenfalls den Tag ins Gedächtnis, an dem mein bisher relativ ereignisloses Leben auf den Kopf gestellt worden war. Und immer noch war ich der Meinung, dass mein Leben in München, bei meinen Freunden und bei meiner Mutter nicht gegen eine PlayStation3 austauschbar war. Elias dagegen schon. Er fand die Vorstellung, sein Zuhause für einen Mann den er nicht einmal kannte, aufzugeben, außerordentlich prickelnd. Aber das könnte auch daran liegen, dass er in der Grundschule immer verprügelt wurde.
Als meine Mutter damals mit Elias schwanger war, ist mein Dad einfach aus unserem scheinbar idyllischen Vorstadt-Familien-Leben verschwunden, und wir haben ziemlich lange nichts von ihm gehört. Und bis mein kleiner Bruder drei war, blieb das auch so. Ich selbst war gerade erst eingeschult worden, als er sich meldete – mit einer Geburstagskarte an meine Mutter. Seine Handynummer hatte er auf der Rückseite hinterlassen. Und seit diesem Tag meldete er sich regelmäßig, das heißt, er rief an, an Weihnachten, an Ostern, oder wenn wir unseren Geburtstag feierten. Meine Mutter ist Opernsängerin, und mit ihrem Rumgeträller wohl ziemlich erfolgreich, ich kenne mich in dieser Szene nicht aus, aber wenn man über dem Konzerthaus ein 12x12 Meter großes Plakat von der Frau hängen sieht, die dich neun Monate lang in ihrer Fruchtblase herumgetragen hat, kann man sich den Rest dazu denken. Jetzt – oder genauer gesagt, letzte Woche Mittwoch- entschloss sie sich dazu, ins Ausland zu gehen. Ich glaube, es hat sie nie wirklich in München festgehalten, und Barcelona muss für sie wirklich ein verlockendes Angebot gewesen sein, was sie letztendlich ja auch angenommen hat. „Ihr werdet eine Zeit lang bei eurem Vater verbringen“, hat sie uns beim Abendbrot angekündigt, und uns die Zugtickets auf den Tisch gelegt. Ich war mir nicht wirklich sicher, wie lange „eine Zeit lang“ andauern würde. Bei meiner Mutter konnte das nämlich alles Mögliche bedeuten. Von zehn Minuten über 27 Stunden bis hin zu drei Wochen oder gar zwanzig Jahren. Schade, dass wir erst heute früh erfuhren, dass unser Vater mittlerweile nicht mehr wie vor sechs Jahren in Rosenheim wohnte, sondern in Hamburg, und uns ein Schulwechsel, ein neues Zuhause („Ich habe nie gesagt dass hier in dieser Wohnung bleibt, Magda“) und die Katastrophe schlechthin bevorstand.
„Achtung, Achtung!“, schnarrte es aus dem Lautsprecher, und ein kurzes Knacken begleitet die Stimme, die nun durch sämtliche Waggons des Zuges rauscht. „Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg Hauptbahnhof. Wir verabschieden uns herzlich von den Gästen, für die die Reise hier endet, und wünschen Ihnen noch einen schönen Tag. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Ladies and Gentlemen…“ „Magda, die Koffer!“, keifte Elias, und sprang auf, um sein speckiges Gesicht an die Fensterscheibe zu pappen, um zu sehen, ob der Hauptbahnhof schon in Sicht oder gar schon vorbei war. „Ist gut, Zwerg“, ächzte ich und zog den ersten Koffer aus der Gepäckablage. Es folgte Elias‘ roter „Felix-der-Hase“-Koffer. „Hast du deine Jacke?“, fragte ich und sah noch einmal prüfend unter die Sitzbank, bevor ich die Tische hochklappte und die Colaflasche unter die Bank vor uns kickte. Elias nickte, und wir machten uns auf den Weg zum Ausgang. Der Zug wurde spürbar langsamer, und bald glitten die steinernen Gleise an uns vorbei, bis die Bahn mit einem leisen Quietschen zum Stillstand kam. Elias drückte stolz auf den grünen Knopf, der die Schiebetür aktivierte und sprang aus dem Zug. Ich folgte meinem Bruder, und sagte: „Papa meinte er wollte uns an der Treppe treffen.“ „Hier gibt es eins….zwei…drei…“, begann Elias zu zählen und behalf sich mit den Fingern. Und der sollte neuneinhalb sein? „Fünf Treppen“, vollendete ich resigniert. „Schade dass Papa nie mal vorbeigekommen ist um uns zu zeigen wie er aussieht“, sagte ich trocken zu niemandem Bestimmten, während der Zug weiter nach Altona zockelte. Im selben Moment vibrierte mein Hintern. „Dein Hintern vibriert“, stellte Elias im selben Moment fest. „Nein, das ist mein Handy“, erwiderte ich genervt, während ich vor halb Hamburg an meinem Hintern herumpatschte, was mir ein paar ziemlich irritierte Blicke einbrachte. Endlich lag das Teil an meinem Ohr. „Papa?“, fragte ich hoffnungsvoll. „Magdalena, es gab da ein Problem“, ertönt die nicht ganz so bekannte Stimme meines ach so verantwortungsbewussten Vaters. „Ach ehrlich?“, fragte ich, „warst du bis eben auch mit dem Zählen der Treppen auf Gleis 2 beschäftigt?“ „Den Sarkasmus hast du eindeutig von deiner Mutter geerbt“, stellte Papa fest. „Hattest du bis eben nicht noch ein Problem?“, fragte ich, ohne auf den vorhergesprochenen Satz einzugehen. „Ach ja…Magdalena, ich sitze auf dem Parkplatz fest, ich stehe im Halteverbot.“ „Ja und?“, fragte ich. Mama hatte darauf gepfiffen ob sie parken durfte oder nicht. Gut, die hatte auch immer ein Bündel Freikarten für die Oper zum Bestechen der Ordnungshüter dabei gehabt. „Könntet ihr bitte rauskommen?“, fragte mein Dad. „Papa, du hast eine 12jährige Tochter und einen 9jährigen Sohn, die du das letzte Mal vor sechs Jahren realistic gesehen hast, und willst sie dazu kriegen dich zu erkennen?“, entgegnete ich ungläubig. Der Typ war ja wohl voll verplant. Die Person am anderen Ende der Leitung schwieg. Ich fasste das als „ja“ auf. „Das ist nicht dein Ernst“, flehte ich. „Ich habe einen Mercedes Klasse A140, schwarz.“ „Hä?“, machte ich verwirrt. „Das ist mein Auto“, erklärte Papa langsam und deutlich. Auf einmal war also ich die Dumme. Blöd gelaufen, dass musste ich als motorenfeindliches Wesen jetzt auch noch zugeben. „Schade, wirklich schade dass ich keinen Mann im Haus hatte, der mir die verschiedenen Automarken beibringen konnte“, heuchelte ich etwas Bedauern vor. „Ich winke euch“, entschied er, und ein Tuten in der Leitung sagte mir, dass er aufgelegt hatte. Wahrscheinlich hatte er keinen Bock darauf, sich weiter mit seiner angekotzten Tochter zu streiten. „Wie will er denn winken?“, fragte Elias, als ich ihm von dem Telefonat berichtete und wir die erstbeste Treppe in die Unterführung nahmen. „Das letzte Foto von mir, was er in die Finger gekriegt hat, ist das, was auf meinem Babypass draufgeklebt war.“ Das fragte ich mich jetzt allerdings auch.
Auf dem Parkplatz wimmelte es von Leuten, Koffern und leeren Coffee-to-go-Bechern, die vom Wind durch die Luft geweht wurden. Autos konnte man in der Menge leider nur vereinzelt erkennen. „Schwarz“, nannte ich meinem Bruder die einzige Vokabel die ich aus der Beschreibung verstanden hatte. „Weißt du wie ein Mercedes aussieht? Klasse A140?“ Elias schüttelte verständnislos den Kopf. Da hatte man schon mal einen Jungen –okay, nannten wir es lieber Männliches Wesen- in der Familie, und der war dann in so was absolut unbrauchbar. Im selben Moment wurde ich auf einen Mann aufmerksam, der vor einem Auto stand, und heftig winkte. Und das Auto war schwarz. „Das muss es sein!“, rief ich aufgeregt und erleichtert zugleich, weil ich nicht damit gerechnet hatte meinen Vater so schnell zu finden. Wir liefen also mitsamt unserem Gepäck auf den Typen zu, der immer noch da stand, und irgendwo anders hinsah, nur nicht zu uns. Er hatte schütteres schwarzes Haar, war etwa 1,87 groß, und sein Nacken, das einzige freie Stück Haut was ich von ihm sah, war braun gebrannt. „Papa, hier sind wir“, krähte Elias fröhlich und rannte ein bisschen vor, während sein Koffer über die ganzen Schlaglöcher auf dem Parkplatz hüpfte wie ein Flummi. Der hochgewachsene Mann drehte sich um und ich musste schlucken. Wenn das mein Vater war, dann sah er verdammt gut aus. Ich blieb stehen, um das Bild auf mich wirken zu lassen. Elias rannte währenddessen freudig kreischend auf den Mann zu, die Ärmel seiner Regenjacke, die er sich unter den Arm geklemmt hatte schlugen um seine Fußgelenke. Ein irritierter Ausdruck huschte über das Gesicht meines Vaters, als ihm sein Sohn in die Arme stolperte. „Papaaa, hast du echt eine PlayStation?“, schniefte mein kleiner Bruder überglücklich und sah zu ihm hoch. Erneut legte sich ein Ausdruck der Verwirrung auf die dunklen Augen. „Äh….“ „Mal ganz ehrlich, wieso hätten wir nicht ein anderes Erkennungszeichen ausmachen können?“, begann ich zu Plappern, und das Gesicht des Mannes wurde nun zur Irritation selbst. Langsam aber sicher wuchs in mir die Vermutung dass Elias und ich hier einer Verwechslung zum Opfer fielen. „Rpfrls“, machte ich also nur entschuldigend, schenkte dem Mann einen treuherzigen Blick und zog meinen Bruder und die Koffer hinter eine freistehende Telefonzelle. Elias sah mich trotzig an. „Was sollte das Magda?“, quietschte er enttäuscht. „Wieso laufen wir weg?“ „Das war wenn schon denn schon ein Dönerverkäufer, aber nicht Papa“, schnauzte ich genervt. Irgendwie war das hier alles ziemlich anstrengend. „Ich mag Döner“, stellte Elias fest und begann einen Popel aus seinem rechten Nasenloch zu fischen und ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu einer unappetitlichen graugrünen dicken Kugel zu zerreiben. Ich sah schnell weg, als in der Hosentasche mein Handy vibrierte. Eilig ging ich dran, während Elias immer noch lauthals darüber nachdachte ob Papa wohl Dönerverkäufer war. „Magdalena! Wo zum Teufel steckt ihr?“, schallt mir die besorgte Stimme meines Vaters in die Ohrmauschel, verzerrt und rauschend. „Guck mal, Magdalena, der Mann da hinten“, kicherte Elias und deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen Mann in kariertem Bauernhemd, weiter ausgeblichener Jeans und Chucks, der heftig mit einem Uniformierten Mann, der wohl vom Ordnungsamt sein musste diskutierte. Seine eine Hand hielt er dabei in merkwürdiger Stellung an seinem Ohr. Ich warf einen erschrockenen Blick auf mein Handy, aus dem ebenfalls laute Geräusche drangen, zwischendurch knackte es. Dann sah ich erneut zu den Streithähnen. Der Typ im Bauernhemd stand vor einem schwarzen kleinen Auto. Oh nein. So ein komischer alter Sack, der so tat, als trüge er angesagte Klamotten, sollte mein Vater sein? Schreck, Kotz, Krise! „Komm!“, befahl ich wütend, packte meinen kleinen Bruder am Ärmel, und zog ihn unter Protestgeräuschen mit mir hinüber zu dem Mann und dem Beamten. „-können hier nicht parken!“ „-warte…Kinder!“, schnappte ich auf, der letzte Wortfetzen musste von meinem vermeintlichen Erzeuger stammen, der mit dem Fuß aufstampfte, um seinen Worten Gewicht zu verleihen. Der Ordnungsamtheini drehte suchend den Kopf in alle Richtungen, bis sein Blick an uns hängen blieb. An Elias, der vor Nervosität hyperaktiv auf der Stelle herumhüpfte und an mir, die wie erstarrt auf das Autokennzeichen sah. „Da sind doch Kinder“, meckerte der Uniformierte los und nickte in unsere Richtung. „Gehören die zu Ihnen?“ Mein Vater steckte sein Handy in die Tasche und wandte den Kopf, sodass ich sein Gesicht zum ersten Mal sah. Mhm. Da hatte ich ja nochmal Glück gehabt dass ich eher nach meiner Mutter kam. Meinen Männergeschmack würde das ja nicht ganz so treffen. Wer war nochmal abgehauen? Er? Wieso nicht Mama? - mit der Hässlichkeit in Person eine Beziehung zu führen, zwei Kinder von ihr auszutragen und mit ihr zusammen zu leben – wie furchtbar! „Magdalena? Elias?“, fragte er mit hohler Stimme. „Papa?“, fragte Elias und ließ mit dem Klang seiner Stimme eine Kitschwelle über den Parkplatz schwappen. Dann ließ er seinen Koffer mit einem lauten Poltern auf den Asphalt knallen und rannte auf meinen Vater zu. Der Heini vom Ordnungsamt wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Papppaaaa“, schrie er freudig (also Elias, nicht der Heini in Uniform) und sprang meinem leicht überrumpelten Vater in die Arme, der ihn pflichtbewusst einmal herumwirbelte und dann auf sichere Füße stellte. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er überwältigt war, den Gedanken sein eigenes Kind herumzuwirbeln aber dennoch ziemlich gewöhnungsbedürftig fand. Ich drehte mich um Elias‘ Koffer aufzuheben und ging in dem langsamsten Tempo was möglich war ohne stehen zu bleiben hinüber zu dem schwarzen Auto. Der Mann vom Ordnungsamt hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Meine Hände zitterten, und Elias Koffer kippte aus der Spur. Ich blieb stehen und beugte mich erneut hinunter, als der Koffer wie von Geisterhand wieder aufgestellt wurde. Ich sah auf, und da beugte sich diese Schönheitspanne doch tatsächlich über mich und sah mich aus fahlgrünen Augen an. „Hallo Magdalena“, sagte er freundlich, mit tiefer, rauer Stimme. Ich starrte ihn nur aus bösen Augen an und hoffte, dass er unter meinem Blick zusammenklappen und sterben würde. Tat er leider nicht. „Hallo…“ Ich kannte ja nicht einmal seinen Vornamen. Meine Mutter hatte ihn häufiger erwähnt, aber er war mir immer wie ein unwichtiges Detail erschienen, und so durch das Sieb meiner Erinnerungen in den Kessel der Vergessenheit geglitten. „Papa?“, schlug er vor, und ein ziemlich unschönes Grinsen breitete sich auf seinem hellen Gesicht aus. Hoffentlich wird Elias niemals so hässlich, schoss es mir durch den Kopf. „Nicht wirklich, oder?“, entgegnete ich mit gefrorener Stimme, als wäre mir alles gleichgültig. „Dann nicht“, antwortete mein Vater, aber ich stellte zufrieden fest, dass seine Stimme in der Mitte des Satzes brach. Ich stolzierte an ihm und seinem verblüfften Gesichtsausdruck vorbei und klappte wie selbstverständlich den Kofferraum auf. Dann versuchte ich, die Koffer hinein zu hieven, was mir aber ziemlich misslang, weil sie verdammt schwer waren. Kein Wunder, jeder Trolley beherbergte mindestens die Einrichtung eines gesamten Kinderzimmers. Oder wenigstens so etwas in die Richtung. Wieder sah mein Erzeuger die Möglichkeit, ein Gespräch zu beginnen. Elias hatte sich bereits auf der Rückbank breit gemacht und sang lauthals ein Lied das ich nicht kannte. „Warte ich helf dir!“, bot er mir übereifrig an. „Ich brauche keine Hilfe“, knurrte ich, während ich mit dem Koffer im Radius von fünf Metern vor dem Auto hin und her torkelte, mit dem Ergebnis, dass er mir auf den Fuß knallte. Das macht dann drei gebrochene Zehen. Ich begann mit zusammengekniffenen Gesicht auf einem Bein vor dem Kofferraum auf und ab zu hüpfen, und das ich außer Gefecht gesetzt war, nutzte mein Erzeuger um die Koffer innerhalb von zehn Sekunden unter der Klappe zu verstauen. Eins zu null für den Feind. Ich hatte eigentlich vorgehabt, mich zu Elias auf die Rückbank zu gesellen, damit ich nicht neben meinem Vater sitzen musste, aber mein kleiner Bruder hatte es irgendwie geschafft, alle drei Sitze zu blockieren. Außerdem kam ich vorne besser an das Autoradio dran, deshalb musste ich mich wohl oder übel auf den Beifahrersitz quetschen und meine Extremitäten irgendwo in dem Fußraum verstauen, was sich als reichlich unbequem erwies. Mein Erzeuger fuhr das Auto summend vom Parkplatz, und bis ich merkte, dass wir schneller wurden, war ich noch damit beschäftigt, mir den Fuß zu reiben, sodass ich nur noch mitbekam, dass wir so eben auf die Autobahn gefahren waren.
- Kapitel 2:
Nun, da war es doch mal an der Zeit ein paar Fragen zu stellen. In meinem Gehirn legte ich sie mir wie gedankliche Karteikarten zurecht, damit ich mich nicht verhaspelte, was mir leider ziemlich oft passierte. a)Wohin fahren wir? Ich dachte du wohnst in Hamburg. b)…und wie weit ist es? Liegt nördlich von Hamburg nicht nur eins, nämlich Nichts? c) Hast du Schokolade zu Hause? d) Wie lautet dein Vorname? Die Antwort von Mamas Ex auf Frage a) ließ mich schockiert darüber nachdenken, ob ich das verdient hatte, und wie dann wohl die Antworten auf b), c) und d) aussehen würden. Ich musste kräftig schlucken. Hier noch einmal, was mein Vater gesagt hatte: „Weißt du, momentan wohnen wir auf einem Campingplatz in Dersau, bis wir eine Wohnung in der Umgebung gefunden haben“, erklärte er. Okay, ich hoffte das „wir“, war auf ihn, Elias und mich bezogen. Aber für mich war das im Augenblick zurückgestellt, vor allem weil Elias von hinten verbesserte („Es heißt die Sau und der Eber“). Gut, wo war dieser Ort? Frage b) war an der Reihe, und verlangte lautstark - ungeduldig hin und her laufend - danach beantwortet zu werden. Leider sorgte auch die zweite Antwort dafür, dass mein Herz, eins, zwei, drei, vier, FÜNF Schläge lang aussetzte, und ich mich bemühen musste, mich nicht sofort in den Fußraum zu übergeben. Aber dann müsste ich meine Füße wohl aus dem Fenster baumeln lassen, weil es gar keinen Platz mehr da unten gab. Und auf der Autobahn die Beine aus dem offenen Fenster hängen zu lassen erschien mir nicht ganz so erholsam. „Dersau ist eine kleine Touristenstadt am Plöner See. Wir überlegen uns dort selbstständig zu machen“, erklärt mein Erzeuger. Wir!? Schon wieder dieses wir! „Wir überlegen gar nichts“, murmelte ich in mich hinein und presste die Stirn an die Fensterscheibe. Alle Autos zogen an uns vorbei, während die Karre meines Vaters beängstigend oft hin und her ruckelte und quietschte, sobald er auch nur die Kupplung schaltete (ich nahm an, dass es die Kupplung war). „Doch - wir“, sagte mein Vater, und obwohl ich nicht hinsah, spürte ich, wie sich sein Gesicht zu einem Grinsen verzog. „Wann sind wir da?“, krähte Elias von hinten. „In etwa einer Stunde“, erklärte mein Vater geduldig. Seltsam. Meine Mutter hatte sich immer von ihrem Sohn ferngehalten, jedenfalls soweit es möglich war. Vielleicht wollte sie keine gefährlichen Keime einatmen oder ihre Haut war besonders empfindlich. Vielleicht hatte sie Angst das Elias nach seinem Dad schlug. „Es sind 103 Kilometer bis nach Dersau“, fuhr er fort, und wechselte die Spur. „Diesau“, beschwerte sich Elias und verschränkte trotzig die Arme. „Dann eben Diesau“, gab mein Vater schmunzelnd nach. „Das ist nicht dein Ernst“, hauche ich entsetzt, und mit offenem Mund. „Lass deinem Bruder doch den Spaß“, sagte mein Vater und gab mir einen Klaps auf mein Knie, was mich dazu veranlasste, ein wenig beiseite zu rücken. „Ich meinte eigentlich, dass wir so weit fahren müssen“, stöhnte ich. Mein Erzeuger gab keine Antwort sondern überholte ein Auto, indem er plötzlich rasant beschleunigte. Huch! So viel Power hatte ich dem kleinen, klapprigen Auto nicht wirklich zugetraut. Die Natur, die am Fenster vorbeizog, sah wieder genauso aus wie die, an der wir mit dem Zug vorbeigerauscht sind. Bis auf dass sie jetzt häufiger von Seen unterbrochen wurde, deren Größen sich ziemlich unterschied. Da gab es welche, dessen Ende ich nicht einmal erahnen konnte, und welche, bei denen ich mir nicht wirklich sicher war, ob es sich bei dem vermeintlichen See nicht um eine Pfütze auf einem unterwasserstehenden Feld handelte. „Liegt Dersau auf der Mecklenburgerischen Seenplatte?“, fragte ich, als ich mich auf meinen Erdkundeunterricht besann. „Holsteinische Schweiz“, berichtigte mein Vater, „in der Nähe von Kiel und Lübeck.“ Der Blick, der daraufhin meinerseits folgte, sprach Bände. Er hätte uns ruhig in einen anderen Zug setzen können, und eine Station weiter fahren lassen, dann hätte ich vielleicht nur zwanzig Kilometer neben ihm auf dem Beifahrersitz verbringen müssen. Er ignorierte mich. Wahrscheinlich bereute er es, seine Tochter zu sich geholt zu haben, aber in mir breitete sich Befriedigung aus. Sollte er sehen, was er davon hatte, wenn er mich Zimmerpflanze auf’s Dorf holte. Ich erinnerte mich wieder an meine Fragen, die ich im Geiste vorbereitet hatte. Als ich fragte, ob er Schokolade zuhause hätte, glotzte er mich an wie eine Kuh. Ich zog abwartend beide Augenbrauen hoch. Er stammelte etwas, was wie ein „Ja“ klang, und ich stellte erfreut fest, dass er ein wenig verunsichert durch den Verkehr schlingerte, während er wohl über den Sinn meiner Frage nachdachte. Die letzte Frage sparte ich mir bis zum Schluss auf. Ich wollte keinen Unfall auf der Autobahn mit drei Toten riskieren, indem ich ihn nach seinem Vornamen fragte. Nein, dass hob ich mir für einsame Landstraßen auf, auf denen wir laut Navigationsgerät bald herumkurven würden. Anstattdessen bereitete ich mich in Gedanken auf das schlimmste vor, was mein Vater als Wohndomizil besitzen konnte. Eine Wohnung mit Kakerlaken als Untermietern? Auf dem Land nicht schwierig umsetzbar. Aber auch mit Ameisen konnte mein Vater sich bestimmt sehr gut anfreunden. Ob es auf dem Land überhaupt so etwas wie Mehrfamilienhäuser gab? Wir passierten ein „Ausfahrt“-Schild, aber laut Navi waren es noch zwanzig Kilometer (es wäre zu schön gewesen um wahr zu sein, wenn Dersau direkt an der Autobahn gelegen hätte), also versank ich rasch wieder in meiner Gedankenwelt, um den Anblick von Bauernhöfen und den Geruch von Kuhscheiße ausblenden zu können, was mir erstaunlich gut gelang. Einen Bauernhof konnte mein Vater sich bestimmt nicht leisten. Was war überhaupt sein Beruf? Er sah ehrlich gesagt aus wie ein Klempner. Oder wie ein Dachdecker. Auf jeden Fall nicht wie jemand, der besonders viel Geld verdiente. Als ich die Frage stellte antwortete er nur. „Ich bin Krankenschwester.“ Na super. Mein Vater entpuppte sich als Krankenschwester. „Wo arbeitest du denn?“, fragte ich zurückhaltend. „ In einem Krankenhaus in Kiel“, sagte er, und setzte den Blinker, um auf eine einsame Straße einzubiegen, die schmal war und so unbenutzt und einsam aussah, dass ich mich wunderte, dass sie überhaupt asphaltiert war. Ich verkniff mir die Frage, wieso er dann in so einem offensichtlichen Kaff namens „Dersau“ lebte, und nicht in Kiel selbst. Elias lachte sich auf dem Rücksicht über den Beruf meines Vaters kaputt, und der Blick meines Vaters ließ mich erkennen, dass mein Bruder mit jedem neuen Auflacher einen weiteren Minuspunkt einkassierte. Okay, eigentlich war mein Vater daran Schuld, dass wir Ungeheuer in der Welt herumgeisterten, denn ihr wisst ja, wenn Bienchen und Blümchen sich gaaaanz doll lieb haben… - Nur dass meine Mutter das Blümchen und mein Vater die Biene war, die gleich davongeflogen war, als sie ihren Nektar bekommen hatte, und noch einmal fest zugestochen hatte. Starben Bienen nicht, wenn sie einmal jemanden gestochen hatten? Eigentlich schade, dass mein Vater keine Biene war. Okay, aber was kam eigentlich genau dabei heraus, wenn eine Biene Sex mit einem Gänseblümchen hatte? Eine fleischfressende Pflanze? Vielleicht war es doch ganz gut, dass wir reale Menschen waren, die sich normal fortpflanzten, genug Möglichkeiten, jemanden umzubringen gab es ja dennoch.
In den nächsten zehn Minuten fuhren wir durch verschiedene Dörfer hindurch, die eher Häuseransammlungen ähnelten, als einem Ort, wo Menschen tatsächlich leben konnten, ohne nicht gleich den Verstand zu verlieren. Dabei fiel mir auf, dass hier jede Straße, die nur annährend zwei Meter breit war, Dorfstraße hieß. Sehr originell, diese Norddeutschen. Elias hatte ein Verkehrsschild entdeckt, auf dem Dersau ausgeschildert war, und war total aus dem Häuschen, während ich darüber in Verzückung geriet, dass es hier so etwas wie Verkehrsschilder gab. Die Kilometeranzahl bis zum Ziel im Navigationsgerät sank erstaunlich rasch ab, und bald passierten wir die Ortseinfahrt eines kleinen Ortes. Zahlreiche Holzschilder, die in die Straßengräben gespießt waren, wiesen auf Hotels und Pensionen hin. Dersau war augenscheinlich eine Touristenstadt oder ein Kurort. Dass es tatsächlich Menschen gab, die hier Urlaub machen wollten? Außerdem wies ein verrottetes, rotes Plastikschild den Weg zu einem Campingplatz am Plöner See, „idyllisch und harmonisch gelegen“, wie mein Vater es beschrieb, als er bemerkte, dass ich das Schild gemustert hatte. Er hatte meinen Ausdruck in den Augen wohl als Reaktion der Entzückung gedeutet, und war froh, dass ich Anteilnahme zeigte. Als das Navigationsgerät mit nervtötender Frauenstimme darauf hinwies, dass es nur noch 500 Meter bis zum Ziel waren, fragte ich meinem Vater nach seinem Namen. Er reagierte erstaunlich gefasst, und schlingerte nur quietschend auf die Gegenspur (hier gab es Gegenspuren!!!! ZIVILISATION!), kaum hatte ich meine Frage beendet. „Du weißt nicht mal wie ich heiße?“, fragte er entsetzt, während ein kleiner Smart hupend auswich und eine sehr eindeutige Geste zu uns hin ausführte. Also nicht der Smart, sondern der Fahrer des Smarts. Ich fand Smarts klasse, vor allem, weil sie in den Großstädten immer in so coolen Autohäusern gestapelt waren, auf verschiedene Etagen verteilt, meistens in einem kleinen Turm vor MC’s. Ich fragte mich auf einmal, ob es hier im Umkreis von fünfzig Kilometern einen MC Donald’s gab, und verspürte plötzlich einen unglaublichen Hunger auf Chicken McNuggets. „Thorsten“, riss mich mein Vater aus den Gedanken, während ein weiteres Auto hupend an uns vorbeidonnerte. Mein Bruder und ich grölten gleichzeitig los, während mein Vater den Autoschlüssel herumdrehte und den Motor wieder anspringen ließ, uns dann wieder auf die richtige Spur brachte. Wir bogen in eine Straße ein, die durch die Lücke eines Deiches hindurchführte, aber ich hatte keine Zeit auf meine Umgebung zu achten. „Wie heißt du wirklich?“, fragte ich, als ich mich wieder beruhigt hatte. Mein Vater schwieg verbissen. Oh mein Gott, das war nicht sein Ernst. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Thorsten hatte auf einem Erdfleck eingeparkt, und stieg aus, weshalb ich und mein Bruder es ihm erstaunt nachtaten. Ich hörte noch, wie das Navigationsgerät hochnäsig verkündete, dass wir uns nun am Ziel befänden, bevor ich die Autotür zuknallen ließ. Thorsten steuerte zielstrebig einen Weg entlang – das Gepäck hatten wir im Auto gelassen - , und je länger wir uns auf dem Campingplatz befanden, desto düsterer wurde meine Ahnung. Und dann waren wir da. An dem Ort, wo ich vermutlich leben musste, bis ich 18 war. Ich war kurz davor in Ohnmacht zu fallen. Mein Vater besaß weder eine von Kakerlaken verseuchte Wohnung, noch einen Bauernhof. Nein. Unser neues Zuhause war ein vergammelter Campingwagen.
- Kapitel 3:
Mein Vater stolzierte auf die Tür zu, die unter einer provisorischen Markise lag, die über die Wiese gespannt war. Bei genauerem Erkunden meiner Umgebung mithilfe der „Kopf-dreh-Blick-schweif“-Technik sah ich, dass wir von Wohnwagen geradezu umzingelt waren. Immerhin führten gepflasterte Wege durch das Labyrinth, und irgendwo hörte ich Wasser rauschen. Thorsten schloss auf, und Elias sprang begeistert hinter ihm her. Ob er wirklich eine PlayStation bekam? Ich seufzte und schlurfte ebenfalls in den Wohnwagen. Direkt gegenüber von mir befand sich eine Kochecke mit Schränken zu beiden Seiten, die den Wagen in drei Räume teilten. Rechts ging es eine kleine Treppe hinauf, links eine dreistufige hinunter. Ich folgte meinem Bruder und Thorsten nach links. Ich musste zugeben, dass es trotz der Enge ganz okay wirkte. Eine winzige Couch stand vor einem noch winzigeren Glastischchen, in dem munter bunte Fische vor sich hindümpelten. Ich war fasziniert. Der Glastisch war gleichzeitig ein Aquarium! Aber ich hatte keine Zeit, um dieses Stück Persönlichkeit von Thorsten zu betrachten, denn Elias sprang mir in den Weg und grapschte nach einem TV-Gerät von der Größe eines Autofernsehrs und drehte und wendete es aufgeregt. Ich rollte mit den Augen und ging zurück in die Kochecke. Mir fiel auf, dass sich eine ausrollbare Tischplatte zwischen den Schubladen stand. Die zugehörigen Sitzmöglichkeiten vermochte ich jedoch nicht zu entdecken. Ich ging nach rechts. Hier stand eine kleine Kommode mit acht sehr sehr kleinen Schubladen (ich fragte mich ob mein Vater darin seine Socken aufbewahrte) und ein Etagenbett, was jedoch ebenso wie die Kochecke zur festgeschraubten Einrichtung des Wohnwagens zu gehören schien. Außerdem konnten auf jeder Etage zwei Menschen schlafen, und nach hinten ausgerichtet befanden sich noch einmal pro Etage zwei Fächer, die vor Boxershorts (!) nur so überquollen. Es schockierte mich ernsthaft, dass Thorsten Boxershorts trug, aber ich hatte nicht groß Zeit mich mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen, denn im selben Moment schleppte dieser unsere beiden Koffer in den Raum, was den letzten geringen Platz endgültig vernichtete. Er zog eine der unglaublich winzigen Schubladen auf, und reichte mir noch verpackte, lila karierte Bettwäsche. Ich fühlte mich wie Bella Swan, als sie in Forks ankam, und ihr Vater ihr erklärte, dass er Bettwäsche für sie gekauft hatte. Mit dem Unterschied dass Chief Swan keine Krankenschwester, sondern Polizist war, keinen Wohnwagen, sondern ein Haus bewohnte, und ich garantiert nicht so dumm war, und mich in einen Vampir verlieben würde. Ich riss sie auf und strich mit den Handflächen sanft darüber. Sie war angenehm kühl. „Ja also….das ist deine. Du darfst das obere haben, ich habe ein frisches Laken drauf gemacht, und ich schlaf unten mit Elias.“ Zu dumm, das ich ein Teenager war, und Zweideutigkeit momentan an erster Stelle stand, weswegen ich unbeholfen gluckste. Thorsten setzte seinen Kuhblick auf, aber ich winkte nur grinsend ab. „Schnarchst du?“, fragte ich scharfsinnig. Thorsten zuckte mit den Schultern und ich zog die Brauen hoch. Dann kletterte ich auf mein Bett, und stieß mir erstmal den Schädel. Am Nachmittag begann ich, den Campingplatz zu erkunden. Er grenzte direkt an das Ufer des Großen Plöner Sees, und das dunkelblaue Wasser mit dem leichten Graustich bewegte sich in den Frühlingsbrisen des Windes sanft hin und her. Zwei Enten waren abgetaucht, vermutlich um ihre Brotzeit einzunehmen. Ich hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. Thorsten war wohl gerade dabei, Kartoffelbrei aus der Tüte zu kochen, und Elias erkundete den nahegelegenen Spielplatz – auf der Suche nach Freunden. Ich ging am Ufer des Sees entlang, bis ich an ein kleines, rundes Büdchen gelangte. Ich hatte noch ein wenig Kleingeld in meiner Tasche, dass ich beim Auspacken meines Koffers gefunden hatte, und kaufte mir eine Dose Fassbrause. Die Frau, die verkaufte, sah nett aus, ich schätzte sie auf etwa zwanzig. Sie hatte langes, hellblondes Haar, dunkle Augen und ich fragte mich, ob mein Vater sie kannte, und vielleicht sogar attraktiv fand, aber die Frage beantwortete sich ganz von selbst. Beziehungsweise beantwortete die Frau sie mir, ohne dass ich danach gefragt hatte. „Du bist Thorstens Tochter, nicht wahr?“, fragte sie freundlich, und reichte mir etwas Wechselgeld, was ich hastig in meine Hosentasche stopfte. Ich nickte verblüfft. „Woher wissen sie das?“ Die junge Frau zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Hier kennt jeder jeden“, erklärte sie, während sie aus einer Seitentür trat, und einen Packen Zeitungen in ein paar Fächer aus Draht stapelte, die stark nach Marke Eigenbau aussahen. „Und die Urlaubssaison ist vorbei, wenn hier jemand campt, dann nur noch die Ü60-Generation.“ Sie musterte mich eingehend, und ich fühlte wie ihr Blick an meinem Bauch hängen blieb. Wieso, wusste ich nicht. „Es gibt tatsächlich Leute, die hier wohnen?“, fragte ich schockiert und öffnete meine Dose. Es zischte und kleine Tröpfchen kitzelten meine Nase. „Wenige. Die meisten kommen aus Kiel und Lübeck. Sie haben gut bezahlte Jobs und Penthouse-Wohnungen, aber keinen Garten und kein bisschen Land. Sie haben hier aber Wohnwagen stehen, in denen sie das Wochenende verbringen, um ein wenig auszuspannen. Dein Vater wohnt hier aber schon seit vier Jahren. Er kauft jeden Morgen als erster die Brötchen, wenn er nicht nach Kiel ins Krankenhaus muss.“ Sie lachte leise, und trat wieder hinter den Tresen. Ich lächelte ein wenig zurückhaltend. „Wie heißt du denn?“, fragte sie. Irgendwie machte sie den Eindruck, als würde sie viel reden. „Magda“, erwiderte ich stumpf und ließ mich auf einen kleinen Felsblock fallen, wo ich einen Schluck Fassbrause trank. „Okay Magda“, grinste sie. „Ich bin Amanda. Nenn mich einfach so.“ Amanda war der erste und einzige fremde Mensch, den ich an diesem Tag auf dem Campingplatz sah. Sonst wirkte er verlassen. Hauste mein Vater tatsächlich schon vier Jahre hier? Ich verabschiedete mich von Amanda und trottete langsam zurück am Seeufer entlang. Heute war Donnerstag. Morgen musste ich noch nicht zur Schule gehen, aber am Montag würde ich mich wieder dem Alltag hingeben müssen. Ich seufzte ein wenig. Wo würde ich zur Schule gehen? Würden meine Klassenkameraden halbwegs akzeptabel sein? Was meinte mein Vater damit, dass „wir“ uns selbstständig machen würden? Und wie würde ich die Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre, die ich bei meinem Vater verbringen würde überleben? Am Samstagmorgen entdeckte ich auf dem Weg zu Amandas Büdchen erstmals Leute auf dem Campingplatz. Sie hatten Sonnenschirme aufgespannt, und räkelten sich auf Campingstühlen, wobei sie die Tageszeitung durchblätterten, oder ihre Haustiere zurückpfiffen, die sich zu weit weg gewagt hatten. A prospos Haustiere. Thorsten besaß eine Jack Russell Hündin, die mir erst aufgefallen war, als ich eine der Schranktüren neben meinem Bett aufklappte. Sie war mir schwanzwedelnd entgegengeschossen und hatte mir freudig das Gesicht abgeleckt. „Thorsten, da ist ein Hund in deinem Schrank!“, hatte ich gerufen. Thorsten hatte vom Kartoffelbrei abgelassen, und war in den Schlafbereich des Wohnwagens gewechselt (was zur Folge hatte, das unser Abendessen verbrannt war). „Oh Nora!“, hatte er gerufen, und der Hund hatte seine Aufmerksamkeit auf Thorsten gerichtet, „ich habe dich schon vermisst!“ So hatte ich also erfahren, dass mein Vater einen Hund besaß, dessen Vorlieben es waren, in Schränken und Schubladen herumzuklettern, sich dort einen Nahrungsvorrat anzulegen, und dann tagelang in den jeweiligen Möbeln zu verschwinden. Jetzt hopste der gruselig lebendige Köter also neben mir am See entlang und hatte reichlich Spaß daran, die Enten aus dem Schilf zu jagen. Die meisten Leute stammten tatsächlich aus Kiel, Lübeck, Hamburg oder sogar Flensburg. Und fast alle erkannten mich als Magdalena, die Tochter „vom Thorsten“. Wahrscheinlich, weil ich den Hund bei mir hatte. Ich kaufte bei Amanda sieben Brötchen – zwei für je Elias und mich, drei für Thorsten – und eine Dose Hundefutter für Nora. Amanda warf dem Terrier ein Leckerli durch das hochgeschobene Fenster, und Nora begann sogleich eifrig auf dem Boden herumzuschnüffeln und sich in irgendetwas zu wälzen. Ich sah sie angewidert an. „Gibt es hier eigentlich so etwas wie einen Supermarkt?“, fragte ich Amanda. „Du bist doch bestimmt auch nicht die ganze Zeit hier.“ Amanda schüttelte den Kopf. „Nur Freitags und das Wochenende. Und über die Feiertage und Wochenenden.“ Ich nickte abwesend und nahm die knittrige Papiertüte an, die sie mir reichte. Dann lockte ich Nora mit einem „Komm mit, Töle“ und ging zum Wohnwagen zurück. Thorsten hatte drei verrostete Campingstühle mit ebenso verrotteten rotkarierten Sitzkissen versehen, und sie um einen noch verotteteren Klapptisch drapiert. Dann hatte er einen durchlöcherten Sonnenschirm aufgespannt, und betrachtete verzückt sein Werk, als ich ihn aus den Gedanken des Selbstlobungsvorgangs riss und ihm die Tüte auf den Tisch knallte. Elias kam aus dem Wohnwagen gehüpft und klapperte mit Brettchen und einem Marmeladenglas. Tatsächlich, mein Vater besaß weder Butter noch Nutella oder Honig. Nur Orangenarmelade mit Schwarzbrot, und die Brötchen hatte er tatsächlich für die Enten gekauft. („Entenbrot gleich Ententod“; protestierte Elias, wurde aber nicht beachtet) . Höflichkeitshalber nagte ich an einer Ecke, und nuschelte etwas von „satt“, während Thorsten sich begeistert seine vierte Scheibe hereinzog und dabei Brötchenkrumen nach aufgeschreckten Enten warf. Ich warf ihnen einen mitleidigen Blick zu, dann begann ich dem zu lauschen, was Thorsten für Geräusche und Worte von sich gab, denn eben war das Wort „Schule“, gefallen. „Magda, hier in der Nähe gibt es eine Gesamtschule, an der ich dich angemeldet habe“, erzählte er, und ich glaube, er redete einfach, egal ob ich zuhörte oder nicht. Eine erste Eigenschaft, die ich von ihm geerbt hatte. „Und Elias, du wirst im Nachbarort auf die Dorfschule gehen“, fuhr er fort. Ich kam mir vor wie vor 100 Jahren, als die Kinder noch auf harten Holzbänken über Tafeln mit Griffeln in der Hand herumhockten, und ausgepeitscht wurden, wenn sie zu spät kamen. „Wir haben heute etwas Besonderes vor“, erklärte Thorsten, und schob sich eine letzte Schnitte in den Mund. „Also haltet euch bitte ab fünf bereit, wir wollen Essen gehen.“ Ich zog beide Augenbrauen hoch. Essen? „Zivilisation?“, fragte ich begeistert, während ich meine Brote ebenfalls den begeistert quakenden Enten zuwarf. Als Dank pickte mich ein Erpel in den Fuß. „Achtet einfach darauf, dass ihr nicht mehr im Schlafanzug herumlauft“, grummelt Thorsten und verzieht sich zurück in den Wohnwagen, ein deutliches Zeichen dafür, dass wir mit „Tisch“ abräumen an der Reihe sind. Ich seufze, stelle die Marmelade zurück in den spärlich bestückten Kühlschrank und checkte mein Handy. Meine Miene hellte sich ein wenig auf, als mir eine SMS von meiner besten Freundin Nina entgegenblinkt. Da meine rothaarige Verbündete leider nicht in’s Gepäck gepasst hatte, musste sie Zuhause in München bleiben, und bisher hatte ich vollkommen vergessen, mich bei ihr zu melden. Hey Magda ;* Alle vermissen dich schrecklich Vor allem Georg Ich wusste doch schon immer, dass er auf dich steht Schade eigentlich, dass wir das erst erfahren haben, nachdem er unerreichbar für dich ist. Ich glaube der Meinung war er auch, denn er ist jetzt mit Angelika zusammen Wann können wir in Hamburg shoppen gehen ?Ich seufzte ein wenig auf. Georg. Groß, schlank und muskulös, achte Klasse und seit ich zehn war mein Schwarm. Unwillkürlich kamen mir seine blauen Augen und die dunkelblonden, fast hellbraunen Wuschelhaare in den Sinn, der schräge Pony, den er sich immer mit einer ruckenden Kopfbewegung zurückgeworfen hatte, wenn ihm die Haarspitzen in den langen, seidigen Wimpern kitzelten…. Ich seufzte noch einmal und schmiss mich auf mein Bett, wo ich mich gurrend in meinen Fantasien und Erinnerungen herumfläzte, die in der Form einer Bettdecke zusammengefasst waren. Meine Träumereien wurden von einer Welle der Wut unterbrochen, die mich durchflutete, als mir einfiel, dass Georg jetzt mit Angelika zu gehen schien. Angelika. Lika genannt, damit es auch ja ihre hinterlistigen Eigenschaften verbarg. Aufgerüschte und aufgetakelte Tussi, ausgestattet mit Markenklamotten von Vero Moda über Hollister bis hin zu Abercrombie und Chanel. Mein Taschengeld reichte ja gerade für ein Teil aus New Yorker. Und jetzt hatte sie den Typen gekriegt, den laut dem ausführlichen Plan, den Nina und ich ausgearbeitet hatten, eigentlich ich bekommen sollte. Auf einmal wollte ich nicht Lika eine runterhauen, sondern meiner bescheuerten, ehrgeizigen Mutter, die wahrscheinlich gerade durch die Altstadt der spanischen Hauptstadt streifte, unter einem blauen Himmelszelt ohne einer einzige Wolke. Wegen ihr musste ich meine Freunde aufgeben, einen schnuckligen Typen einer doofen Ziege überlassen und durfte mein restliches Leben wahrscheinlich forever alone auf einem Campingplatz mitten in der Einöde verbringen, jeden Morgen ein Schwarzbrot mit Marmelade und ohne Butter essen und dabei zusehen wie verdammte Enten meine Brötchen auffraßen. Und genau das textete ich Nina zurück. Ich erhielt bald eine Antwort, nicht mal drei Minuten später. Schön zu wissen, dass meine beste Freundin mich auslachte. Um zehn vor fünf stand ich in den Sanitärgebäuden des Campingplatzes ( ja, mein Vater besaß nicht mal eine eigene Toilette, geschweige denn einen Duschschlauch) vor einem befleckten Spiegel und starrte mich mitleidig an. Ab jetzt würde ich wohl Gemeinschaftsduschen benutzen müssen, denn die einzelnen Duschkabinen waren weder durch Sichtschutz, noch durch irgendetwas anderes voneinander getrennt. Meine Intimsphäre war also im Arsch. Positiv war, dass außer meinem Vater, Elias und mir wohl keiner dauerhaft hier lebte, und ich bis auf an den Wochenenden das Damenklo für mich hatte. Gleich würden wir Essen gehen, wo und aus welchem Anlass auch immer. Da ich nicht wusste, wem ich begegnen würde, wenn ich den Campingplatz verlassen musste, hatte ich meine Jogginghose und mein Schlafshirt, in dem ich die letzten 24 Stunden ausgeharrt hatte, gegen Hotpants und ein XXL-Shirt getauscht. Dazu trug ich die Strandflipflops aus Korbgeflecht, die ich im Schuhfach des Wohnwagens entdeckt hatte. Als ich zum Campingwagen zurückmaschierte, Schultern zurück, aufrechter Gang, große, ausgreifende Schritte (ich hatte das Gefühl anständig aussehen zu müssen), entdeckte ich eine spindeldürre Frau mit platinblondem Haar in der Tür des Wagens. Sie schien sich mit meinem Vater zu unterhalten. Ich drängelte mich mit einem „Sorry, ich muss rein“, an ihr vorbei und erstickte fast an ihrer Parfümwolke a la Ungaro, als ich bemerkte dass Elias den Durchgang zur Fernsehecke blockierte, in die ich mich zurückziehen hatte wollen. „Magdalena!“, rief mir auch im selben Moment mein Erzeuger nach, sodass ich stehen blieb und mich umdrehte. „Was ist?“ „Ich möchte dir jemanden vorstellen“, erklärte Thorsten und wies auf die Frau, deren Gesicht mir unter einer dicken Maske aus Make-Up verborgen blieb. Sie trug ein trägerloses, enges schwarzes Top, aus dem ihr dicker Busen oben herausquoll, und eine eng anliegende, gerade geschnittene Chino. Ihre rot lackierten langen Klauen an den Fingern hoben sich perfekt glänzend vor dem weißen Stoff ab. „Magdalena, das ist Janine“, verkündete mein Vater stolz, und wuchs scheinbar um drei Zentimeter, aber ich war mir sicher, dass er sich auf die Fußballen stellte. In mir keimte ein unangenehmer Verdacht auf, und er bestätigte sich drei Sekunden später als Janine – was war das bitte für ein Name, trotz aller Schminke, die auf ihrem Gesicht haftete, sah sie aus wie mindestens 40- einen Schritt nach vorne trat und demonstrativ ihre knallrot angemalten Lippen spitzte, wobei ihre hellblauen, erwartungsvollen Augen mit den verklebten langen Wimpern unangenehm kullerten. Thorsten lächelte, legte seine riesige, faltige Handfläche auf ihre gepuderte Wange und drückte ihr ein Küsschen auf den Mund. Mir wurde schlecht, aber nur, weil dieses Bild verdammt anwidernd war. Nett das Thorsten von seiner Freundin erzählt hatte. Aus irgendeinem Grund verwunderte die Tatsache, dass er vergeben war, nicht. Und abgesehen von meinem leichten Schwanken bewahrte ich einigermaßen Figur. Janines goldene Creolen wippten an ihren Ohrläppchen auf und ab und zogen sie in die Länge, als sie wieder zurücktrippelte und zwitscherte: „Ich habe die drei Kleinen mitgebracht.“ Erst das versetzte mich in ernsthafte Alarmbereitschaft. Ich begann rasch zu keuchen, und mein Herz pochte innerhalb von Momenten doppelt so schnell wie üblich. „Wo sind sie denn?“, fragte Thorsten und gab ihr erneut einen Kuss, für den er sie fast auf den Rasen hinausschob. „Sie warten im Auto“, flötete sie und trat pikiert, aber deutlich zurück in den Wohnwagen. „Wir wollten doch Essen gehen. Alles in Ordnung mit deiner Tochter?“, fragte sie misstrauisch und musterte mich erstmals vollständig von oben bis unten, bis ihr Blick an meinen aufgerissenen Augen hängen blieb. Sie zog eine perfekt gezupfte Augenbraue hoch, als würde ihr einiges klar werden, und schulterte ihre Handtasche aus schwarzem Lack. Dann grapschte sie besitzergreifend Thorstens Hand. „Wir können dann, oder?“ Elias – der mir nervös an meinem Shirt zupfte – und ich wurden keines Blickes gewürdigt, nur, als Thorsten –der Nora an der Leine führte - wartete, bis er den Wohnwagen abschließen konnte, der sich ein wenig seufzend hob, als Elias als letzter aus dem Gefährt hüpfte – nicht ohne mein T-Shirt weiter festzuklammern wie einen Rettungsring. Wir gingen hintereinander über die Wiese, Janine vorran, dann Thorsten und ich, und letztendlich Elias, der mein Oberteil völlig zum ausleiern brachte. Janines Zehn-Zentimeter-Absätze bohrten kleine Löcher in die aufgeweichte Erde, als sie querfeldein über die unbenutzte Wiese in Richtung Parkplatz stakste. Währenddessen beruhigte ich mein aufgeregtes Gemüt mit der Produktion einiger sachlichen Gedanken. Es könnten auch drei Wellensittiche gemeint sein, oder drei Mäuse. Oder drei Hunde. Hunde! Ja, dass musste es sein. Ich warf einen Blick auf Nora, die schwanzwedelnd neben Thorsten an der provisorischen Leine lief. Drei Hunde waren relativ logisch, dann hätte Nora Spielgefährten. Ich atmete ein wenig ruhiger, und wich einem Haufen Katzenscheiße aus, in den Elias natürlich hineintrat. In der grün belaubten Hecke, die zu zwei Seiten den Parkplatz vom Campinggelände und den Sanitärsgebäuden trennte, befand sich an der Ecke eine Lücke, durch die die Nutzer der Anlage rasch auf den Parkplatz gelangen konnten. War natürlich eigentlich verboten, da man normalerweise die gepflasterten und gekiesten Wege zu nutzen hatte, aber der kleine Strich Erde, auf dem keine Gräser wuchsen, und der quer über die Wiese zu der Lücke in der Hecke verlief, machte deutlich, dass sich hier niemand an dieses Verbot hielt. Janine stolzierte immer noch vorran. Man sah deutlich dass sie in der Beziehung mit Thorsten das Sagen hatte. Mein Erzeuger schlich hinter seiner Freundin her wie ein kleinlauter Erstklässler, der im Klassenzimmer mit Kreide geworfen hatte, und erwischt wurde. Mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Blick folgte er Janine, die so eben klimpernd einen Autoschlüssel aus ihrem Täschchen beförderte und ihn energisch auf ein sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr sehr großes weißes Auto richtete. Das verweilte direkt neben Thorstens sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr, sehr kleinem Mercedes, und blinkte freudig auf, als Janine auf einen Knopf drückte. In den nächsten Sekunden wurde mein absoluter Alptraum wahr. Die hintere Tür zur Rückbank öffnete sich krachend, aber dennoch elegant, und ein kleiner Junge fiel aus dem Auto, landete auf einem Knie und rappelte sich ein wenig verwundert auf, dann klopfte er seine Shorts ab. Er schien ein wenig älter zu sein als Elias, von dem inzwischen ein ekelerregender Geruch ausging und lief auf Janine zu. „Du warst viiiieeeel zu lange weg“, beschwerte er sich, und ein anklagender Blick lag in seinen blauen Augen. Ich folgte dem Dialog nicht weiter, weil aus dem Auto eine weitere Person stieg – beziehungsweise schwebte. Ein Mädchen, schlank, ihr Alter konnte irgendwo zwischen Zehn und 18 Jahren liegen, setzte ihre Ballerinas (Marke Primadonna, schwarz mit dickem karierten Schleifchen auf der Schuhspitze) auf den Kies und es knirschte leise. Ihr hellblondes, dünnes Haar trug sie lockig, und augenscheinlich hatte sie den kleinen von eben aus dem Auto geschubst, denn sie nahm gerade ihre Hand wieder zurück an ihren Körper und knallte die Autotür zu. Ich runzelte die Stirn. Wollte sie Eindruck schinden? Mein Verdacht erhärtete sich, als ich sah, wie Janine dem kleinen Jungen ein Küsschen auf die Stirn hauchte und ein leichter Lippenstiftabdruck auf seiner Haut zurückblieb. So wie es momentan aussah, hatte ich wohl Stiefgeschwister.
- Kapitel 4:
Magdalena, Elias, dass sind Nils und Kathleen“, erklärte mein Vater stolz und klopfte Nils auf die Schulter, dass der fast einen halben Meter schrumpfte. Ich trat einen Schritt zurück, um meine Abneigung deutlich zu machen. „Nils, Kathleen, dass sind Magdalena und Elias. Kathleen, Magda ist so alt wie du“, zwitscherte Janine und strahlte mich an, sodass ihre perlweiße Zahnreihe das Sonnenlicht reflektierte. „Ach echt?“, fragte Kathleen und fuhr sich durch das Haar (Botschaft: Ich bin sexy, ätsch). „Der Name ist doch schon 100 Jahre alt. Wer heißt denn heute noch Magdalena?“ Ihre raue Stimme klang beim Ausprechen meines Namens verächtlich und Thorsten zischte etwas. Immerhin war er laut Mamas Erzählungen derjenige gewesen, der so begeistert von „Magdalena“ war. „Ich“, entgegnete ich schlicht und stemmte die Hände in die Hüften (Botschaft: Doofe Kuh, wie siehst du denn aus? Sexy willst du sein?). „Muss ja nicht jeder so ein assoziales Pseudoenglisch-Getue mit sich herumtragen.“ Jetzt war es an Janine böse zu gucken. Bei den bebenden Lippen würde es nicht mehr lange dauern bis ihr der Lippenstift auf der Nasenspitze klebte. Auf der anderen Seite des Autos ertönte noch einmal das Knallen einer Tür. Und auf einmal kam um das Auto herum – der bestaussehendste Typ, den ich je gesehen hatte. Er übertraf selbst Georg, aber wahrscheinlich, weil er mindestens 15 war. Ich starrte ihn wie hypnotisiert an. Hatte das Schicksal Mitleid? Der Junge war fast so groß wie Thorsten und eine Art Mischmasch aus Robert Pattinson (Augen und Beine), Taylor Lautner (Body) und Alex Pettyfer (Gesicht und Frisur). Ein wenig 1D-Faktor hatte er auch. Sein Männerparfum, dass elegant zu mir hinüberflog, versetzte mich vor Begeisterung fast in Ohnmacht. Der Typ kaute demonstrativ Kaugummi, aus dem V-Ausschnitt seines Hellgrauen T-Shirts, dass seine braun gebrannten Arme betonte, baumelten iPod-Kopfhörer. Aha. Kein Checker, die immer solche Riesenpolster auf den Ohren sitzen hatten, sondern sportlicher Styler. „Ach, dich haben wir ja fast vergessen“, begrüßte Thorsten den Jungen überschwänglich, und grinste breit. „Magda, Elias, das ist Felix.“ Schmacht. Doch Felix schien eher gelangweilt als interessiert, und nickte uns kurz zu, bevor er etwas aus seinem Red Bull-EnergyDrink soff, den er in der rechten Hand hielt. Oh je. Marke Desinteresse. Felix überragte seine Mutter um fast zwanzig Zentimeter, obwohl diese ihre hochhackigen Schuhe trug. Kathleen sah ihre Mutter vorwurfsvoll an und spielte mit einer ihrer leichten blonden Haarsträhnen (Botschaft: Ich bin klein, süß und niedlich – zumindest tu ich so, denn eigentlich bin ich eine richtig doofe Kuh). Gut, der letzte Teil war von mir.Thorstens Selbstsicherheit, die seit der Vorstellung von Nils wieder aufgeflammt war, sackte in sich zusammen wie ein nasser Sack. Ich lächelte selbstgefällig. „Wir fahren jetzt!“, entschied Janine, und durchbrach die peinliche Spannung, die sich über die Gruppe gelegt hatte. „Alle einsteigen!“, flötete sie und machte eine Handbewegung zu dem sehr, sehr, sehr, sehr großen Auto. Kathleen verdrehte die Augen. „Boah bist du peinlich“, stöhnte sie, und kletterte in die zweite Reihe, Nils mit sich zerrend. Felix folgte. Das hieß, dass Elias und ich wohl die hinterste Sitzbank mit zwei Sitzen für uns hatten. Na super. Janine fuhr. Wir kurvten durch das Dorf, und irgendwann am Ortsrand brachte Janine ihre Familienkutsche zum Stehen. Kathleen, Nils und Felix kletterten ohne ein Wort aus dem Auto, und ich ging eilig hinterher. Gaststätte zum laufenden Hasen. Na super. Das einzige was hier lief, war eine Fernsehshow in Form einer öden NDR-Doku über die holsteinische Schweiz, und selbst die spielte sich nur in meinem Kopf ab. Es war ein kleines Fachwerkhäuschen, aber in mitten der flachen Landschaft wirkte es wie ein riesiger Klotz. „Wir haben reserviert, Familie Hallbert-Schwung“, ergriff Thorsten zum ersten Mal seit einer halben Stunde das Wort, als wir an dem alten Tresen standen, hinter dem ein Opa ein paar Gläser trockenwischte. Leise Volksmusik plätscherte aus dem Radio, dass ich in einem der unzähligen Schränke und Regale vermutete, die sich hinter dem Mann auftaten. Mich schockierte etwas ganz anderes. Mein Vater war wieder verheiratet? Ich und Elias hießen ganz normal Schwung mit Nachnamen, aber Thorsten musste Janine geheiratet haben, um einen Doppelnamen anzunehmen. Meine Miene verfinsterte sich.
Eine Platzreservierung wäre hier gar nicht nötig gewesen. Außer uns hielt sich hier nur ein Pärchen in Wanderklamotten auf, die gerade ihre Sachen zusammenpackten. Ich widerstand der Versuchung, die spontan anzuquatschen und sie zu fragen, ob ich sie begleiten dürfe. Vielleicht näherte ich mich so einer zivilisierten Gesellschaft. Der Opa nickte, als Thorstens Worte schließlich zu ihm durchdrangen, und schlurfte hinter dem Tresen hervor. Wir folgten ihm mit Gänsefüßchenschritten und er wies uns einen großen Tisch in der Ecke zu. Sie war– dank den zwei Fenstern – relativ hell und ich quetschte mich zwischen Kathleen und Nils auf eine harte Holzbank. Es begann das übliche Gerangel um die Speisekarte, von der praktischerweise nur eine existierte. Da Felix der stärkste und größte war, ergatterte er sie schließlich, und wählte innerhalb von zehn Sekunden ein knallhartes Rindersteak aus. Als ich die Karte in die Hand bekam, entschied ich mich für ein Schnitzel mit Pommes, dann wurde sie mir von Elias entrissen. Nachdem der Opa unsere Bestellung aufgenommen hatte, lehnte ich mich seufzend zurück und musterte unauffällig die Runde. Mein hässlicher Vater Thorsten, der direkt neben der grell geschminkten und aufgetakelten Janine saß, die ebenso wenig in das Wirtshaus passte wie ein Mustang in eine Zebraherde. Dann die zickig aussehende Kathleen, deren (leider) ausgesprochen volle Lippen glänzten, sodass ich zu dem Schluss kam, dass sie Lipgloss trug. Ihre langen Wimpern waren getuscht, gerade so dass es auffiel, aber nicht zu stark aufgetragen. So wie ich es nie hinbekam. Ob sie wohl schon dreizehn war? Ich wurde erst im Sommer dreizehn, und erwartete den 15. Juni mit Sehnsucht. In meinen letzten Lebensjahren war ich zu dem Schluss gekommen, dass man kein Teenager ist, bevor man den dreizehnten Geburtstag hinter sich hat, egal wie viel Pickel du hast, oder ob du schon einen BH trägst. In den Büchern, die ich als Fünftklässlerin gelesen hatte, waren die Protagonistinnen mit ihren Freunden alle immer dreizehn gewesen, und wahrscheinlich war es auch dann erst genehmigt einen Jungen zu küssen oder so. Mit 12 wurde man einfach nicht für voll genommen. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als das Essen serviert wurde (wieder von dem Opa), und auch das Schweigen brach, das am Tisch geherrscht hatte. Ich hackte auf mein Schnitzel ein, und nachdem das Gericht vollständig in meinem Magen gelandet war, ergriff Janine (wer sonst?) das Wort. „Also… wir freuen uns natürlich dass ihr beide“ – sie sah mich und Elias abwechselnd an – „jetzt hier seid.“ „Ja, allerdings“, unterbrach ich sie gereizt (aus einem bloßen Impuls heraus). „Wir freuen uns auch sehr, aus unserem Zuhause weggenommen zu werden, zu einer….Familie, die wir nicht kennen, und wahrscheinlich auch nicht leiden können! Wie denn auch, wenn ich meinen Vater nach sechs Jahren mal wieder seh, und nur, weil wir ihm praktisch aufgezwungen wurden.“ Es waren die ersten vollständigen Sätze, die ich seit den letzten Stunden in der Gegenwart der neuen Familie meines Vaters herausgebracht hatte, und sie wirkten seltsam befreiend. Ein seliges Lächeln legte sich auf mein Gesicht. „Du kannst fortfahren“, zwitscherte ich Janine zu, und klimperte sarkastisch mit den Wimpern. Dumme Kuh. Bildete ich es mir nur ein, oder stahl sich da ein klitzekleines Lächeln über Felix‘ gesenktes Gesicht? Kathleen blickte jedenfalls zickig drein, und Nils passte sich der Stimmung seiner großen Schwester an. Janine räusperte sich nervös. „Also, Thorsten und ich sind seit mittlerweile einem dreivierteljahr verheiratet.“ Ich zog eine Augenbraue hoch, verschränkte die Arme und lehnte mich abwartend zurück. „Und jetzt wo…ihr da seid, dachten wir…“ Janine wurde das erste Mal verlegen. Thomas ergänzte hastig. „Wir dachten wir ziehen zusammen.“
- Kapitel 5 (teilweise | nicht überarbeitet):
Im Schulbus war es voll, und ich klammerte mich so fest an zwei der blauen Stangen, das meine Fingerknöchel weiß wurden. Schon als ich eingestiegen war, hatte mich dieses seltsame Gefühl überkommen. Und jetzt erinnerte ich mich selbst an eine Maus, die von einer Horde Schlangen umgeben ist. Sie starrten mich gierig an, züngelten zwischendurch ihren Verbündeten etwas zu, und durchbohrten mich dann wieder mit ihren schlitzigen, gelben Augen. Ich sah hinüber zu Kathleen, die neben einer geschminkten Brünetten saß, und auf ihr iPhone starrte. Manchmal sah sie auf und sagte etwas zu ihrer Sitznachbarin, und ganz selten sah sie auch durch die Leute zu mir – dann verzogen sich ihre glänzenden Mundwinkel spöttisch und sie raunte der Brünetten etwas ins Ohr. Mit einem Ruck, der mich gegen einen verpickelten Freak warf, der neben mir ebenfalls um sein Leben rang, hielt der Bus an einer Ampel. Als er wieder anfuhr, lag ich drei Meter weiter vorne im Gang, und rappelte mich mit Mühe auf.
Es war Dienstagfrüh, zehn vor Acht, und in wenigen Minuten würde ich durch den Eingang meiner neuen Schule treten. Ohne Freunde, ohne Leute die ich kannte. Ich war verdammt nochmal ein Opfer. So wie die Außenseiter zuhause, die ich kaum eines Blickes gewürdigt hatte, weil sie es einfach nicht wert waren, dass man sich mit ihnen abgab. Trotz allem hatte ich mir allergrößte Mühe gegeben, zu signalisieren, dass ich durchaus einen Blick oder zwei Wörter wert war. Ich war gestern im örtlichen Drogeriemarkt gewesen, und hatte mich mit einem nötigen Vorrat an Make-up und Nagellack eingedeckt, und mir für heute meine besten Klamotten heraus gesucht. Blaukarierte Bluse, weißes Rüschenshirt, und eine enge dunkle Jeans mit dickem Gürtel, den ich von meiner Mutter bekommen hatte. Eigentlich sollte ich mich geschmeichelt fühlen. Solche Großstadtpflanze wie ich kamen bestimmt nicht oft hierher, und wenn, gingen sie nach zehn Minuten ein. Ich war schon ganz schön zäh. Der Bus verlangsamte sich, und hielt in einer Haltebucht. Durch die Fenster konnte ich einen Blick auf ein großes Gebäude erhaschen, aber dann wurde der Ausblick von dem Kopf des verpickelten Freaks verdeckt. Die Türen klappten auf, und der Bus leerte sämtliche Schüler aus. Ich wartete auf dem Bürgersteig, bis sich das Gedrängel halbwegs aufgelöst hatte, und ging dann über die Straße, immer dorthin, wohin sich die Karawane bewegte.
Zuletzt von Kristallpfote am So 10 Jun 2012 - 12:44 bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet |
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